Worte sind Magie

„Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort.“ (Joh. 1,1)

Worte haben keinen Selbstzweck. Worte verfolgen immer ein Ziel. Worte sind Magie. Sie verzaubern ihre Leserinnen und Leser. Achten Sie daher immer darauf, welche Worte Sie an sich heran lassen. Es gibt kein Zurück. Sobald ein Wort einmal ausgesprochen wurde, ist es da. Es ist wie ein Tropfen, der auf die Wasseroberfläche eines stillen Sees fällt. Wie das Wasser sich in Ringen über die ganze Fläche ausbreitet, so wirken auch Worte weiter, nachdem sie einmal geäußert wurden. Warum Worte für uns eine solche Faszination besitzen, verstehen wir leichter, wenn wir uns die Geschichte der Worte und ihrer Repräsentation in Schriftform vor Augen führen.

Gebetsmühlen in Tibet

Mündliche Worte

In früheren Jahrhunderten gab es die Worte nur in mündlicher Ausprägung. Schöne und bedeutsame Worte wurden auswendig gelernt und von Generation zu Generation weitergereicht. Wie einen kostbaren Schatz. Wertvoller als Gold und Silber. Überlieferungen sind der Kern unserer Zivilisation und die Basis, auf der unsere heutigen Religionen beruhen. Ursprünglich wurden alle diese Traditionen mündlich weitergegeben, also „tradiert“, wie dies der Fachbegriff Tradition bereits zum Ausdruck bringt.

Orakel

Orakel

Eine besondere Wertigkeit wurde Rätselsprüchen oder Weissagungen zugebilligt. Boten sie doch eine unschätzbare Hilfe bei anstehenden Entscheidungen. Sowohl im persönlichen Bereich – wen soll ich heiraten? – als auch bei politischen Entscheidungen – sollen wir in den Krieg ziehen oder nicht?

Als moderne Orakel könnten wir Horoskope oder Verse in chinesischen Glückskeksen betrachten. Menschen neigen dazu, sich in als schwierig erachteten Situationen Hilfe „von außen“ holen zu wollen. Eigentlich würde es ja genügen, wenn wir uns öfter mit unseren Mitmenschen unterhalten würden. Am besten mit möglichst vielen Mitmenschen. Und vorzugsweise gerade mit solchen, die nicht unserer Meinung sind. Dadurch würde sich unser eigener Horizont am schnellsten erweitern. Doch ein solches Vorgehen ist mit Aufwand verbunden und möglicherweise auch mit Frustration, falls wir Widerspruch ernten sollten. Da ist es natürlich einfacher, sich einer harmlos erscheinenden Entscheidungshilfe wie eines Orakels zu bedienen, auch wenn die Ergebnisse qualitativ nicht auf derselben Stufe stehen dürften.

Ein Wort - ein Zeichen

Ein Wort – ein Zeichen

Eine regelrechte Revolution fand statt, als das Wort schließlich eine Schriftform bekam. Dieser geniale Gedanke, Worte so abzubilden, dass sie unabhängig von ihrem Sprecher übermittelt werden konnten, war eine kulturelle Leistung, die man gar nicht hoch genug veranschlagen kann. Anfangs waren die Zeichen dem Gemeinten noch recht ähnlich, später erfuhren die Zeichen eine gewisse Abstrahierung und Vereinfachung.

Quelle: Wikipedia: Phönizische Inschrift Arch Museum Alanya

Quelle: Wikipedia: Von Phi - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71182887

Wörter werden aus Konsonanten zusammengesetzt

Und als mit den Phöniziern dann das Phänomen hinzu kam, nicht mehr pro Wort ein Zeichen zu verwenden, wie das beispielsweise im Chinesischen vorliegt, sondern Konsonanten als separate Zeichen auszudrücken, war der Vorläufer unserer heutigen westlichen Buchstabenschrift geboren.

Worauf man schrieb

Doch das Material, auf das die Zeichen aufgebracht werden konnten, war entweder sehr teuer und aufwändig, aber dafür haltbar, wie zum Beispiel aus Stein oder Metall. Oder es war billig, zerfiel dafür aber nach einer gewissen Zeit, wie zum Beispiel im Falle von Palmblättern, Leder oder Holz.

Glücklicherweise haben die Chinesen schon vor Tausenden von Jahren das Papier erfunden. Diese Errungenschaft hat sich bis heute als Erfolgskonzept erwiesen und wurde stetig weiterentwickelt.


Wer konnte schreiben?

Im Altertum und bis ins Frühmittelalter hinein waren Buchstaben, Schriftkunst und Tradition den Gelehrten und den Reichen vorbehalten. Die arme Bevölkerung konnte es sich nicht leisten, sich ihre Kinder in diesem Künsten ausbilden zu lassen, denn jede Hand wurde für den Erwerb des täglichen Lebensunterhalts benötigt. Viele Herrscher unterhielten eigene Schreibstuben, in denen sie wertvolle Handschriften erstellen oder abschreiben ließen, um das darin enthaltene meist astronomische oder medizinische Wissen für ihr jeweiliges Reich und ihren Machterhalt zu nutzen.

Die dadurch entstandenen Bibliotheken waren weltberühmt. Doch die zentrale Sammlung von einmaligen Handschriften hatte auch einen Nachteil. Von den meisten Handschriften existierte kein „Backup“. Das war ein großer Fehler. So fielen die berühmtesten Bibliotheken, wie beispielsweise die Bibliothek von Bagdad, das Bayt al-Hikma (Haus der Weisheit), leider blinder Zerstörungswut zum Opfer. Hülägü, ein Enkel Dschingis Khans, ahnte vermutlich nicht, welch unwiederbringliche Schätze er im Jahre 1258, als er Bagdad eroberte, zerstören ließ.

Die Vervielfältigung von Texten war jahrtausendelang nur unter erheblichem zeitlichen und finanziellen Einsatz realisierbar. Daher hatten oft nur Menschen dafür Zeit, die sich nicht um das Überleben ihrer Familie kümmern mussten, wie zum Beispiel Mönche. In den mittelalterlichen Klöstern wurden Handschriften systematisch erstellt, kopiert und archiviert. Diese Texte blieben den Gelehrten und den Herrschenden vorbehalten. Doch im 15. Jahrhundert n.C. bahnte sich eine Wende an.

Erfindung des Buchdrucks

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Erfindung des Buchdrucks

Johannes Gutenberg ist jedem Buchliebhaber bestens bekannt. Ohne seine bahnbrechende Erfindung wäre unsere geschichtliche Entwicklung anders verlaufen. Er hat es nicht nur einem großen Leserkreis ermöglicht, an bisher geheim gehaltenen Inhalten – wie beispielsweise dem Text der Bibel – teilzuhaben, sondern seine Druckerpresse war letztlich die Voraussetzung dafür, dass Luther seine Lehren per Flugblatt unters Volk bringen konnte. So betrachtet, ermöglichte der Buchdruck das Marketing für erste Demokratisierungsansätze innerhalb des modernen Christentums. Ohne diese breite Zustimmung durch die Bevölkerung hätte sich Luthers Lehre nicht durchsetzen können. In der katholischen Kirche steht noch heute die Liberalisierung aus, die sie damals abgelehnt hat. Vielleicht fällt es manchen Kirchenmännern daher so schwer, Frauen zur Ordination zuzulassen, wer weiß? Es könnte als spätes Eingeständnis gewertet werden, dass die Protestanten damals Recht gehabt haben könnten.

Durch die Erzeugnisse aus dem Buchdruck wurde die allgemeine Alphabetisierung gefördert, denn die Menschen hatten großes Interesse daran, die Flugblätter und Bücher zu lesen. Die Tatsache, dass es die Bibel seit Luther auf deutsch zu lesen gab, verstärkte diesen Wunsch natürlich. Denn mit einem lateinischen Text hätte die Bevölkerung trotz gelungener Alphabetisierung nicht viel anfangen können.

Quelle: Wikipedia: Gutenberg Bibel

Quelle: Wikipedia: Von Original by Johannes Gutenberg (printer), Scan by Jossi - Facsimile of a page from 42-line Gutenberg Bible, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38733061

Worte sind göttlich

Es kommt nicht von ungefähr, dass die wertvollsten Schriften, die weltweit immer wieder aufbewahrt, abgeschrieben und weitergereicht wurden, religiöse Texte waren. Weltweit haben die Menschen aller Völker und Glaubensrichtungen einen Zusammenhang gesehen zwischen Göttlichkeit und dem Wort. Religiöse Schriften werden von jeher mit größter Ehrerbietung behandelt.

Wenn Juden eine neue Schriftrolle der Thora (= die ersten 5 Bücher Mose) erstellen, mussten die Schreiber minutiös darauf achten, dass sie keinen einzigen Fehler darin machen. Falls einem Schreiber an irgendeiner Stelle ein noch so kleiner Ausrutscher passieren sollte, war er gezwungen, die gesamte Schriftrolle von Anfang an neu zu erstellen. Hier gab es kein Pardon. Es wurden keinerlei Retuschen oder Korrekturen zugelassen. Eine Thorarolle musste absolut fehlerfrei sein. Sonst taugte sie nicht für den Gebrauch in der Synagoge.

Schon auf den allerersten Zeilen der jüdischen Thora sowie der christlichen Bibel wird ein Zusammenhang zwischen Gott und seinem Wort hergestellt. Gott sprach, und es ward. Das gesprochene göttliche Wort hat eine enorme Wirkmächtigkeit. Schon in der allerersten Weltentstehungserzählung wird somit ein Bogen gespannt zwischen mündlicher Überlieferung hin zur Verschriftlichung. Die Wirkmächtigkeit wohnt jedoch nicht nur dem mündlichen Wort inne. Auch dem geschriebenen Wort gilt die Ehrerbietung der Gläubigen.

Im Islam gibt es einen ewigen unkörperlichen Koran, der sich von jeher und für alle Zeiten bei Allah befindet. Er beinhaltet die wahre Botschaft, die Gott zu den Menschen sprach und die für immer Gültigkeit hat. Muslime glauben, dass diese Botschaft identisch ist mit dem, was den Juden und den Christen von Gott gesagt wurde. Letztlich ist es ja auch ein einziger Gott, an den die drei monotheistischen Religionen glauben. Daher liegt es nahe, auch von einer einzigen, einheitlichen Botschaft auszugehen.

Gottesbild im Islam und im Christentum

Die irdischen Bücher, die wir heute in den Händen halten, sind laut muslimischer Überzeugung nur eine Kopie des bei Gott befindlichen Original-Korans. Die Bedeutung dieses Original-Korans entspricht in etwa der Bedeutung, die im Christentum die zweite Person der Gottheit, Christus, genießt. Wenn also manche meinen, man könne Koran und Bibel miteinander vergleichen, so führt das zu Missverständnissen. Denn der ewige Koran im Himmel ist natürlich weitaus mehr als nur ein Buch. Es ist letztlich das göttliche Wort. Also genau das Äquivalent zu dem, was die Christen über Christus glauben. [Wenn manche Christen nicht verstehen können, weshalb Muslime so ein Aufhebens machen wegen eines Buches, sollten sie sich einfach einmal fragen, wie sie es finden würden, wenn die zweite Person der Gottheit, also Christus (nicht etwa Jesus!) zum Gegenstand von Spott-Karikaturen würde. Doch das nur am Rande bemerkt.]

Die Muslime bringen auch der irdischen Koran-Kopie eine enorme Ehrerbietung entgegen. Enthält sie doch die Worte Gottes, die er zum Propheten Muhammad gesprochen hat. Letztendlich wissen wir Menschen über Gott nur das, was er von sich aus bereit war, uns mitzuteilen, also zu „offenbaren“.


Wort = Gott

Das Christentum bringt den Zauber, der dem Wort innewohnt auf die Spitze. Die Christen glauben streng genommen an einen Gott des Wortes. Im Johannes-Evangelium steht: „Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Und Gott war das Wort.“ (Joh. 1,1). Gott ist also sozusagen identisch mit seinem Wort. Das kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die zweite Person der Gottheit, Christus, als das Wort betrachtet wird. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh. 1,14). Jesus ist im Prinzip das irdische Äquivalent des ewigen Wortes Gottes. Man könnte also sagen, was die Christen von Jesus glauben, ist die formale Entsprechung dessen, was die Muslime über die irdischen Koran-Kopien glauben. Beides sind Repräsentationen der ewigen (im Himmel bei Gott befindlichen) göttlichen Botschaft auf Erden. Daher beten Christen auch nicht Jesus an, sondern das Wort Gottes (=Christus) als die zweite Person einer trinitarischen Gottheit.

Man könnte also sagen, dass die Lehre des Christentums und des Islams in Bezug auf die Aussagen über Gott gar nicht voneinander abweichen. Die Wahrheit wird lediglich in eine unterschiedliche Erzählgeschichte gegossen, um sie den Menschen verständlicher nahezubringen. Wenn die Gläubigen beider Religionen nicht am Buchstaben kleben, sondern sich auf den Kern ihres jeweiligen Glaubens besinnen würden, könnte aller Streit schon heute begraben werden.

(Renate Wettach)

"Worte sind Magie" - Renate Wettach spricht auf dem Speaker Slam in Mastershausen 2022
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